Trauergedichte: Catulls Passer-Gedicht (Carmen 3)

Wenn es um Tiergedichte geht, dann denkt man da natürlich zuerst an die Passer-Gedichte Catulls (c. 2 und 3), vor allem auch, weil der Tod von Lesbias Spätzlein in Carmen 3 bejammert wird.

Dass die Römer bis heute ein besonderes Verhältnis zu Tieren haben, zeigen zahlreiche Belege aus Literatur und Kunst, wie etwa die Darstellung von Vögeln im Bild daneben.
Aber während es bei Leibnitz tatsächlich um den Vogel bzw. um die Besitzerin, durch die der Vogel unsterblich sein wird, geht, ist nicht vollkommen eindeutig, wie der Passer zu deuten ist. Vor allem Holzberg sieht z. B. eine sexuelle Konnotation im Wort passer.
Vordergründig aber wird bei Catull wird Vogel zunächst wohl in c. 2 gepriesen und dann in c. 3 betrauert, weil er Gespiele seiner Besitzerin ist. Als Epikedeion (griechisch ἐπικήδειον, lateinische Form Epicedium) wird ein solcher Trauergesang im antiken Griechenland bezeichnet und als Besonderheit findet man seit der Antike auch Trauergedichte auf den Tod von Tieren, auch parodistisch umgebogen wie hier bei Catull.
Hier nun zunächst das Trauergedicht (c. 3)
Lugete, o Veneres Cupidinesque,
et quantum est hominum venustiorum:
Trauert, oh Göttinnen und Götter der Liebe und alle ihr Menschen, die ihr für Liebe empfänglich seid! venustus (→Venus + onustus): anmutig, fein, liebenswürdig
Passer mortuus est meae puellae,
passer, deliciae meae puellae,
5 quem plus illa oculis suis amabat.
Der Sperling meines Mädchens ist tot, der Sperling, der Liebling meines Mädchens, den jene mehr als ihre eigenen Augen liebte. Parallelissmus →

anaphorisch: passer + Epipher: meae puellae

deliciae: Lust, Freude; Liebling

Nam mellitus erat suamque norat
ipsam tam bene quam puella matrem,
nec sese a gremio illius movebat,
sed circumsiliens modo huc modo illuc
10 ad solam dominam usque pipiabat.
Denn er war so süß wie Honig und kannte die Seine selbst so gut wie ein Mädchen die Mutter.
Und er bewegte sich nicht aus ihrem Schoß, sondern, während er bald hierhin und bald dorthin hüpfte, piepte er immerfort zu seiner Herrin allein.
norat = noverat ; präsentisches Perfekt

mellitus (mel = Honig) metaph.: süß

Qui nunc it per iter tenebricosum
illuc, unde negant redire quemquam.
Dieser geht nun auf dem finsteren Weg dorthin, woher niemand, wie man sagt, zurückkehrt. iter ire: figura etymologica

tenebricosus: dunkel (tenebrae =

At vobis male sit, malae tenebrae
Orci, quae omnia bella devoratis:
Doch euch soll es schlecht ergehen, ihr schlechten Schatten der Unterwelt, die ihr alles Hübsche verschlingt! male sit: „den soll der Henker holen“

male / malae: Polyptoton

bellus: fein, nett, allerliebst

15 Tam bellum mihi passerem abstulistis
o factum male! o miselle passer!
Ihr habt mir den so hübschen Sperling genommen! Ach Freveltat! Ach armer Sperling! malefactum = Übeltat → Tmesis
tua nunc opera meae puellae
flendo turgiduli rubent ocelli.
Durch deine Schuld sind die geschwollenen Augen meines Mädchens nun vom Weinen rot. turgidulus (turgere): geschwollen

https://gottwein.de/Lat/catull/catull003.php bringt im Vergleich zwei weitere Gedichte über eine Drossel sowie über Grille und Heuschreck

Dieses typisch neoterische Gedicht zeigt den für einen Threnos kennzeichnenden Aufbau:

  1. Anrede: passer
  2. Feststellung des Todes: mortuus est
  3. Schilderung der Verdienste: nam mellitus erat suamque norat / ipsam tam bene quam puella matrem etc.
  4. Gang in die Unterwelt: qui nunc it per iter tenebricosum / illuc, unde negant redire quemquam
  5. Klage und Verfluchung der Schattenwelt: at vobis male sit, malae tenebrae / Orci, quae omnia bella devoratis:
  6. Schilderung der Auswirkungen auf die Lebenden: tua nunc opera meae puellae / flendo turgiduli rubent ocelli.

Dennoch muss das Gedicht wohl als Parodie verstanden werden. Dies zeigen die Übertreibungen vor allem mit dem Gang in die Unterwelt, wie sie sonst Helden in Epen wie Odysseus oder Aeneas vorbehalten sind, aber nicht einem Sperling. Auch die theatralische Anklage der „malae tenebrae“ – man fühlt sich an die Rede des Orpheus vor den Göttern der Unterwelt erinnert, obwohl die Rede des Orpheus vor allem Zeugnis ablegt für das rhetorische Talent Ovids! – belegt, dass wir eher von einer Parodie eines Neoterikers ausgehen dürfen als von einem tief empfundenen Schmerz des Dichters.

Einige Parallelen finden sich in dem Grabgedicht auf eine Hündin namens Myia („Fliege“), das eine Grabplatte aus Marmor des 2. Jh. n. Chr. bietet, die in der Nähe von Auch ( Augusta Ausciorum) in Frankreich gefunden worden war (Carmina Latina Epigraphica 1512).

 

Natürlich sollte hier auch Martial nicht fehlen, zumal er Catulls  passer in I 7  und in I 109 persifliert. Aber beide Gedichte gehören nicht zu den Totenklagen, weshalb der Verweis auf sie an dieser Stelle genügen soll.

Stellae delicium mei columba,
Verona licet audiente dicam,
vicit, Maxime, passerem Catulli.
Tanto Stella meus tuo Catullo
quanto passere maior est columba.

Die Taube, der Liebling meines Stella, 
mag ich es sagen, obwohl Verona zuhört
hat den Sperling Catulls besiegt, Maximus. 
Um so viel größer ist mein Stella als dein Catull, 
wie die Taube größer ist als der Sperling.

Zwar haben diese Texte keinen direkten Bezug zu Coburg, sie sind aber durchaus interessant im Vergleich zu dem Thema der 1. Nox Casimiriana, da beim Gedicht von Leibniz die Intention durch den Vergleich deutlicher herausgearbeitet werden kann. Und das Herausarbeiten von Topoi etc. ist wichtiger Bestandteil wissenschaftlicher Arbeit und Forschung in den Literaturwissenschaften.

Es kann also festgestellt werden, dass die Totenklagen auf Tiere literarische Intentionen verfolgen und keine wirklich gehaltenen Grabreden, Threnoi oder Grabepigramme sein sollen. Stattdessen sind sie meist parodistisch so überhöht, dass ein anderer Zweck erkennbar wird. Meist ist eine Kritik an den Besitzern bzw. Besitzern der Tiere erkennbar, bei Catull dagegen wird wohl vor allem die exzessive Liebe humoristisch dargestellt.

Sodann kann das Passer-Gedicht auch durchaus – was die Vergleichstexte nahelegen – als literarisches Spiel verstanden werden, ohne dass man einen echten Schmerz des Dichters erkennen muss. Catull zeigt sich hier als Neoteriker, andere alexandrinische Gedichte nachahmt und so seine Kunst bewesit.

 


Literatur:

Walter Reissinger: Die Gründung der Noctes Casimirianae; in: Musarum Sedes; Festschrift zum 400-jährigen Bestehen des Gymnasiums Casimirianum Coburg, Coburg 2005; Seite 173 ff.

Otterstedt, C. / Rosenberger, M. (Hg.): Gefährten – Konkurrenten – Verwandte. Die Mensch-Tier-Beziehung im wissenschaftlichen Denken; Göttingen 2009

https://www.bpb.de/themen/umwelt/bioethik/290626/mensch-tier-beziehungen-im-licht-der-human-animal-studies/ [Bioethik]

Hans-Joachim Glücklich: Catulls Gedichte im Unterricht; Göttingen 1980; besonders Seite 21 f.

Catull – Liebes- und Haßgedichte: Ins Fränkische übertragen von Hans Boas; Bamberg 2002; S. 48 ff. (C. 3)

https://gottwein.de/Lat/catull/catull003.php

https://www.lateinheft.de/catull/catull-carmen-3-ubersetzung/ [nicht zu empfehlen, nicht einmal der Ablativus comparationis „plus oculis suis“ in Vers 5 ist erkannt, sondern als Instrumentalis übersetzt!]

http://www.catull.de/html/carmen_3.htmlhttps://www.latein-unterrichten.de/fileadmin/content/unterrichtseinheiten/catull/image/Vokabeln_c._3.pdf [Lernwörter aus C. 3]


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