COBURGUM LATINUM

Noctes Casimirianae

(Hinweis: der Artikel verwendet „Die Gründung der Noctes Casimirianae“ von Walter Reissinger)

Im Dezember des Jahres 1700 übernahm der Theologe Ernst Salomo Cyprian die Leitung des Coburger Gymnasium Academicum. Die Scholarchen hatten sich nach längeren Querelen für den erst 27 Jahre alten Bewerber entschieden und sich damit über das Votum des Generalsuperintendenten Johann August Stempel hinweggesetzt. Dieser war hartnäckig für eine schulinterne Lösung des Nachfolgeproblems eingetreten, obwohl die Herzöge von Gotha und Römhild Cyprian von sich aus zur Kandidatur ermuntert hatten. Möglicherweise lockten sie Cyprian mit der Aussicht, dass die Schule unter seiner Leitung zu einer Universität ausgestaltet werden könnte. Die Kritiker gab es, aber sie sollten sich gründlich täuschen, er rechtfertigte in den folgenden Jahren durch seine Amtsführung das in ihn gesetzte Vertrauen. Der aufgeklärte Briegleb urteilt strenger: „Noch nie war das Casimirianum von so vielen Jünglingen besucht worden, als damals, da Cyprian diesem Institut als Director vorstand; und niemals waren so viele, so große Ausschweifungen von den Studierenden begangen worden, als eben damals. (vgl.: Musarum sedes; S. 173 f.) Dass er ein fähiger Wissenschaftler war, stand ohnehin außer Frage. Das zeigt nicht zuletzt, dass er ein Jahr vor seiner Coburger Kandidatur durch die Fürsprache des großen Leibniz zum außerordentlichen Professor für Philosophie an die Universität Helmstedt berufen worden war. Und das zeigt auch der Schriftwechsel zwischen beiden.

Schon am 20. Januar des Jahres 1701, acht Tage nach seiner offiziellen Einführung, lud der junge Direktor literarisch Interessierte zu wöchentlichen Zusammenkünften ein. In dem lateinischen Einladungsschreiben [Cyprian: „über Studiengemeinschaften“ in der Landesbibliothek Coburg unter der Signatur: CAS A6361:8] wendet er sich an die gelehrten Männer (docti) Coburgs.
Warum nur an Männer? Als ,,gelehrt“ galt, wer die lateinische Sprache beherrschte und mit dem Bildungskanon der studia humana vertraut war, also Theologen, Juristen, Ärzte und Professoren. Da den Frauen eine akademische Ausbildung vorenthalten wurde, gab es in Coburg tatsächlich keine „gelehrten Frauen“. Freilich ist es vorstellbar, dass die Frauen der Professoren Lateinkenntnisse hatten. Sie lebten in zweisprachigen Haushalten, hörten ihre Männer mit Tischgästen lateinisch sprechen und halfen wohl auch ihren Latein lernenden Söhnen. Dabei blieb sicher manches hängen. Aber diese rudimentären Kenntnisse reichten natürlich nicht aus, um sich an lateinisch geführten Diskussionen über lateinische Bücher zu beteiligen. Auskunft über „gelehrte Frauen“ in Coburg erhält man durch den Sammelband „Seien Sie doch vernünftig“ mit Biographien von „Frauen der Coburger Geschichte“ (herausgegeben von Gaby Franger, Edmund Frey und Brigitte Maisch; Coburg 2008),  z. B. „Gelehrtes Frauenzimmer„, Charlotta Maria Bagge – ( von Isolde Kalter; a. a. O.  S. 100; S. 103: … lässt sich vermuten, dass sie Lateinunterricht hatte.) oder Coburger „schreibende Frauen“ (von Edmund Frey, a. a. O.  S. 108). Aber auch hier findet sich kein sicherer Hinweis auf Lateinisches…

Die geplanten Zusammenkünfte nannte Cypnan Noctes Casiminanae, „Casimirianische Nächte“, wobei er offenkundig als Vorbild für diese Bezeichnung den Werktitel des Gellius wählte, der die Sammlung seiner Kurzessays zu literarischen, philosophischen und wissenschaftlichen Themen Noctes Atticae  “ Attische Nächte“ betitelt hatte, weil er das Buch, wie er in der Einleitung schreibt, während langer Winternächte auf einem attischen Landgut verfasst habe. Mit der Bezeichnung Noctes Casimirianae deutet Cyprian an, dass die Unterredungen zur Nachtzeit im Casimirianum stattfinden sollten. Und Cyprian war nicht der Erste, den der geheimnisvoll klingende Buchtitel des Gellius zur Nachahmung reizte. ln Bologna gab es die von Cyprian im Einleitungsschreiben erwähnte Akademie Nox, in Rom die von Kardinal Carlo Borromeo gegründete Accademia delle Notti Vaticane, die ,,Vatikanischen Nächte“.

Vorbilder waren italienische Akademien wie die Sieneser Intronati ,,die Betäubten“, die sich, getreu ihrem Ovid entlehnten Wahlspruch Meliora latent (Das Bessere hält sich verborgen), vom Lärm der Welt fern hielten, um ungestört literarisch arbeiten zu können. Ihr Symbol war ein Kürbis mit eingeschnittener Öffnung, über dem zwei gekreuzte Mörserstößel zu sehen sind. Das Bild spielt auf einen bäuerlichen Brauch an: Die toskanischen Bauern pflegten das Salz, das sie mit Mörserstößeln zerkleinerten, in ausgehöhlten getrockneten Kürbissen aufzubewahren. Die Akademie der Intronati ist nach diesem Bild eine äußerlich unscheinbare Stätte der Weisheit, denn das Wort ,,Salz“ hat schon im Lateinischen („sal“) die metaphorische Bedeutung ,,Witz“ und Witz steht in einer Ursprungsbeziehung zum Geist. Die Intronati setzten die von Enea Silvio Piccolomini gegründete Sieneser Accademia Grande fort. Piccolomini, der spätere Papst Pius II., hatte mit der in seiner Heimatstadt Siena spielenden Novelle „Euryalus et Lucretia“ einen Bestseller der Renaissanceliteratur geschrieben.

Am Ende führt Cyprian bezeichnenderweise keine italienische, sondern eine deutsche Akademie, die erst wenige Monate zuvor in Berlin gegründete ,,Kurbrandenburgische Sozietät der Wissenschaften“. Hier nennt er den vollen Namen des prominenten Gründers und schickt dem Namen eine preisende Apposition voraus: ,,der berühmte und auch um meine wissenschaftliche Tätigkeit hervorragend verdiente Mann, Gottfried Wilhelm Leibniz: vir illustris & de studiis nostris praeclare meritus Gothofredus Guilielmus Leibnitzius.
Seine Beziehung zu dem berühmten Akademiegründer verdeutlicht auch der Briefwechsel zwischen beiden. Cyprian möchte in seiner bedrängten Situation offensichtlich möglichst viele einflussreiche Männer für seine Noctes Casimirianae gewinnen. Dass er in Kontakt mit dem berühmten Universalgenie Leibniz stand, war für die Leser des Einladungsschreibens sicher eine Empfehlung und weckte die Bereitschaft, sich an diesem Unternehmen zu beteiligen.

Der Leser des Einladungsschreibens, der entdeckt, welcher geistige Reichtum sich hinter den seltsamen Namen verbirgt, kommt nicht umhin, über den Anspruch Cyprians zu staunen. Wollte Cyprian mit Coburger Bürgern eine Akademie gründen? Natürlich nicht. Er selbst hatte den geistigen Horizont, wie seine Aufnahme in die Berliner Akademie im .Jahr 1703 zeigt. Doch Cyprian macht sich nichts vor. Er ist sich bewusst, dass die Coburger Gelehrten (docti) den Vergleich mit den Hochgelehrten (doctissimi) der genannten Akademien nicht aushalten. Deshalb betont er, dass bei den Noctes Casimirianae die Freude an der Wissenschaft im Mittelpunkt stehen solle. Er lädt die Gebildeten Coburgs dazu ein, Mußestunden auf geistvolle Weise zu verbringen.

Der Theologe, Bücher- und Münzsammler Cyprian schlägt für die geplanten Sitzungen die Beschäftigung mit theologischen,  literaturgeschichtlichen und numismatischen Problemen vor. Andere Themen lässt er ausdrücklich zu, warnt aber vor wahlloser Lektüre. Eindringlich fordert er die Teilnehmer dazu auf, ihren eigenen Interessengebieten treu zu bleiben. Dazu zitiert er ohne Quellenangabe einen Gedanken Senecas aus dem 2. Brief der Epistulae morales. Seneca vergleicht dort ziellose Lektüre mit planlosem Reisen. Planloses Reisen führe zu vielen Bekanntschaften, verhindere aber echte Freundschaften.

Als Thema der ersten Sitzung kündigt Cyprian die Lektüre von Grabinschriften für Tiere an. Dieses Programm klingt merkwürdig und wenig attraktiv. Es stand aber reiches Material zur Verfügung, denn die Totenklage um Tiere war in der Antike ein beliebtes Thema fingierter oder echter Grabepigramme. Die Lektüre einiger antiker Beispiele diente zur Vorbereitung des eigentlichen Vorhabens, der Beschäftigung mit themengleichen zeitgenössischen Gedichten. Anlass für diese Gedichte war der Tod des Papageis der Madame de Scudéry. Eine genauere Darlegung dazu – zusammen mit einigen weiteren lateinischen Totenklagen für Tiere – sind auf der Seite „Totenklage um Tiere“ zusammengefasst.

Cyprian lädt die interessierten Coburger Gelehrten in sein „Museum“ ein. Als Museum bezeichnete man damals die Studierstube eines Gelehrten. Das verhältnismäßig große Amtszimmer des Direktors befand sich, im ersten Stock des Casimirianums. Der Raum war sicher mit Büchern voll gestopft, denn Cyprian besaß eine große Bibliothek. Als alter Mann versuchte er die auf über 8000 Bände angewachsene Büchersammlung, eine der größten deutschen Gelehrtenbibliotheken jener Zeit, geschlossen zu verkaufen. Auf die Bücherschätze seines Studierzimmers beziehen sich die paradoxen Antithesen am Ende des Einladungsschreibens: Das Studierzimmer sei zwar ärmlich (pauperadum), aber in ihm lebten die Toten, sie sprächen und schwiegen doch, sie ließen sich befragen und antworteten – stumm.

Die erste Nox wurde am Samstag, dem 29.Januar 1701, abgehalten. Cyprian entschied sich für den Samstagabend, weil der meist „frei von lästigen Aufgaben“ sei (a munerum molestia plenumque immumis) Den Beginn hatte er auf fünf Uhr abends festgelegt. Die Sitzungen, die wöchentlich stattfanden, scheinen gut besucht gewesen zu sein. Gottfried Ludwig, der Nachfolger Cyprians als Direktor des Casiminanums, berichtet, dass „viel Gelehrte, auch von Fürstlichen Ministris, sich gefallen liessen, zu allerhand gelehrten Unterredungen zusammen zu kommen“. Über den Inhalt der ersten Nox wissen wir dank dem zweifach überlieferten Einladungsschreiben recht gut Bescheid. Berichte über andere Sitzungen liegen nicht vor. Doch eine Vermutung hat viel Wahrscheinlichkeit für sich: Als Cyprian in den Monaten vor der Hundertjahrfeier (1705) mit Feuereifer für die Verwirklichung des Universitätsplans kämpfte, wird er auch die Noctes Casimirianae genutzt haben, um die Teilnehmer dafür zu begeistern.
Wir wissen nicht, wie lange die Zusammenkünfte stattfanden. Schon Ludwig war der genaue Zeitpunkt nicht mehr bekannt. Er schreibt, es sei ,,mit solchem Congress eine gute Zeit continuiret“ worden. Die ungenaue Zeitangabe ist wohl so zu verstehen, dass die Noctes noch vor  dem Weggang Cyprians nach Gotha, also vor 1713, eingestellt wurden. Dass Cyprian, der sein Amt mit so viel Elan angetreten hatte, zunehmend unter den Coburger Verhältnissen litt, bestätigt diese Vermutung. Er selbst beklagte sein martyium scholasticum. „Aber das Casimirianum war für seinen großen Geist zu klein“, so urteilt zutreffend der kluge Briegleb. Die Berufung nach Gotha beendete das schulische Martyrium des amtsmüden Cyprian.

Im Jahr 1959 richteten der Schulleiter Dr. Keyßner und der Jurist Dr. Alwens am Casimirianum wieder einen humanistischen Lesezirkel ein. Der geheimnisvoll klingende Name Noctes Casimirianae erschien ihnen so attraktiv, dass sie ihn auf die Neugründung übertrugen.
Die Tradition dieser Noctes besteht bis heute: Einmal im Monat, zurzeit freitags, treffen sich die Teilnehmer im Elternsprechzimmer, das im Zwischenstock des Renaissancebaus liegt. Im Zwischenstock, der von der Gymnasiumsgasse aus an den kleineren Fenstern zu erkennen ist, wohnten von 1606 bis ins 20. Jahrhundert die Direktoren des Casimirianums. Die Sitzungen finden also dort statt, wo Cyprian von 1700 bis 1713 wohnte. Der offizielle Teil beginnt um 20.00 Uhr und endet gegen 21.45 Uhr. Die Teilnehmer, sodales genannt, übersetzen und besprechen vor allem Werke lateinisch schreibender Autoren aus Antike und Neuzeit. Um 22.00 Uhr folgt der zur Tradition gewordene „Umtrunk“ in einer nahen Gaststätte. Die Lesestoffe der Noctes werden in den Jahresberichten des Casimirianums veröffentlicht. Auch aktuell (2022) trifft sich trotz Corona – ein kleiner Kreis.

Schlussbemerkung:

Diese Seite ist anders als die meisten Seiten über z. B.  lateinische Inschriften. Zum einen steht kein lateinischer Text im Mittelpunkt, außerdem ist der Text hier nicht eigens verfasst, sondern verwendet – wie eingangs angekündigt – „Die Gründung der Noctes Casimirianae“ von Walter Reissinger, einem ehemaligen Kollegen am Casimirianum. Aber unter den Titel Coburgum Latinum“ lässt sich doch wohl subsumieren, was, wie Cyprian sagte, lateinisch spräche, was sich befragen ließe und stumm antwortete. Schöner ließe sich heute noch nicht formulieren, warum man sich – in Coburg! – mit lateinischen Texten beschäftigen solle und was die Texte uns sagten.

Letzte Schlussbemerkung:

Ende Mai 2022 kam das Ende der „Noctes Casimirianae“, wobei Oberstudiendirektorin Ursula Kick-Bernklau zur Abschiedsfeier eingeladen hatte. Im Artikel der Neuen Presse Coburg vom 1. Juni las man, dass sie sehr bedauere, dass der im Herbst 1959 noch einmal gegründete ArbeitskreisLesezirkel der Lateinübersetzer sich nun auflöse. Als Gründe führte sie an: „Der Arbeitskreis sei überaltert, und der Nachwuchs bleibe aus. Zudem hätten mehrere Sitzungen wegen Corona ausfallen müssen, sodass es zur schon lange geplanten Übersetzung von Ciceros Briefen nicht mehr gekommen sei.“ Somit endete eine Tradition, die 1701 begonnen hat.

 

 


Literatur:

Walter Reissinger: Die Gründung der Noctes Casimirianae; in: Musarum Sedes; Festschrift zum 400-jährigen Bestehen des Gymnasiums Casimirianum Coburg, Coburg 2005; Seite 173 ff.

https://www.np-coburg.de/inhalt.coburg-aus-liebe-zum-latein.145cae59-5773-4104-8d4c-ea939f06b829.html  (Zeitungsartikel der NP vom 18.01.2016 von Dr. Jörg Bilke)

 


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